23. Dezember – FRANKREICH

Begonnen hat es im Herbst 2015. Zwei Arbeitskolleginnen wollten irgendwie aktiv werden. In einem Wiener Notquartier lernen sie mehrere Burschen aus Afghanistan kennen. Sie gehen am Wochenende öfters gemeinsam wandern in den Wienerwald oder machen Sightseeing Touren in Wien. Die Gruppe wird größer, Freunde schließen sich an. Die Jahre vergehen, Lehrstellen werden gesucht, Behördentermine wahrgenommen, es wird immer wieder gemeinsam gekocht und gespielt. Hamid ist Maria besonders ans Herz gewachsen. Er ist offen und humorvoll. Aber Hamid darf nicht bleiben, er bekommt einen negativen Bescheid, hat Angst vor einer Abschiebung und taucht unter. Wie viele andere junge Männer in seiner Situation geht er nach Frankreich, um dort noch einmal von vorne anzufangen und einen sicheren Platz zum Leben zu finden. Er ist nicht mehr der Alte, nicht mehr so fröhlich und hoffnungsvoll wie früher, erzählt mir Maria. Sie hält mit ihm weiterhin Kontakt, besucht ihn sogar in Frankreich. Er ist immer wieder verzweifelt – aber nie ganz alleine. Maria bleibt an seiner Seite.

Weil wir als Menschen verbunden sind

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22. Dezember – MUT

Mahdi hat Anina in der Schule kennen gelernt. Beide haben sich ineinander verliebt. Sie dürfen sich nicht zu zweit treffen, deshalb kommt Anina immer mit ihrer Schwester oder einer Freundin. Zu Aninas Geburtstag lade ich alle drei zum Mittagessen ein. Mahdi hat eine Torte gebracht. Sie erklären mir das Problem: Mahdi sollte eigentlich bei Aninas Eltern um ihre Hand anhalten, so verlangt es die afghanische Kultur. Aber Mahdi hat keinen Job, keine eigene Wohnung und nicht einmal einen positiven Asylbescheid. Er traut sich nicht zu Aninas Familie. Ich weiß nicht, was ich machen soll, sagt er und schüttelt verzweifelt den Kopf. Was meinst du dazu, frage ich das Mädchen. Anina lacht. Für sie ist es klar: Er soll trotzdem kommen und sich ihrer Familie vorstellen. Ihr Vater ist sehr sehr nett und gar nicht so streng, meint sie. Na dann, sage ich aufmunternd. Ok, sagt Mahdi, ich mache es sobald wie möglich. Es klingt noch nicht so motiviert.

Ein paar Wochen später telefonieren wir wieder. Mahdi sagt, er muss mit mir reden. Aha, ich muss schmunzeln, er überlegt schon, wie er es anlegen soll. Ich halte Mahdi jedenfalls die Daumen.

Weil es Menschen sind wie wir

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21. Dezember – GEBEN und NEHMEN

Ich komme vom Spital nach Hause, versuche mich wieder einzugewöhnen. Das Gehen fällt mir schwer und Aufräumen kann ich auch nicht. Natürlich hilft mir meine Familie, aber manches bleibt einfach liegen. Ich möchte wieder leben wie früher, unabhängig sein, mir nach meinen Vorstellungen die Zeit einteilen, aber manches geht alleine nicht. Ich brauche Hilfe. Nicht jeden Tag, aber hin und wieder, und ich möchte vor allem selbst entscheiden, wann ich sie brauche. Susanne fragt Layla. Sie sagt gleich zu. Layla geht mit mir einkaufen und ich bringe ihr unsere Bügelwäsche. Sie hat drei kleine Kinder, aber ich kann sie immer anrufen und sie versucht sich nach mir zu richten. Zu meinem Geburtstag kochen Leyla, Fatima und Samira für mich. Ich kann Freundinnen einladen und sie bewirten, fühle mich selbständig, fast wie eh und je. Gut gelaunt kosten wir uns durch die syrischen und afghanischen Gerichte.

Weil das Leben aus Geben und Nehmen besteht

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20. Dezember – DA SEIN

Ich gehe mit Nadim und seinen Freunden in der Stadt spazieren. Nadim hat ein paar Tage zuvor wieder einmal eine Jobabsage bekommen. Ich fühle mich hilflos und es kommt mir auch ziemlich dumm vor, ihn aufzumuntern. Wir plaudern über Belanglosigkeiten, aber es liegt mir wie ein Stein am Herzen, dass ich nichts tun kann, um seine Situation zu verbessern. Irgendwann spreche ich es an, ich werde ziemlich laut und schreie mir meine Hilflosigkeit geradezu von der Seele: Ich kann nichts für dich machen, es tut mir so leid, ich hoffe so sehr, dass du einen Job findest, aber ich kann nichts dafür tun, verstehst du, fährt es aus mir heraus. Ich weiß, sagt er, es macht nichts. Seine Freunde mischen sich ein. Wir wissen, dass du nichts tun kannst, es ist ok. Es ist wie eine Erlösung für mich. Ich kapiere plötzlich, dass ich nicht immer etwas tun muss. Manchmal geht es nur darum, da zu sein. Wir sind dann einfach weiter spazieren gegangen, und irgendwann haben wir uns ein Eis gekauft.

 Weil wir füreinander da sein wollen

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19. Dezember – ERZIEHUNG

Brigitte, Martina und Eva sind Patinnen von jungen geflüchteten Burschen. Brigittes Kinder machen bei vielen gemeinsamen Aktivitäten mit ihrer Mutter mit. Martinas Kinder reagieren unterschiedlich, die jüngere Tochter hat wie ihre Mutter keinerlei Berührungsängste, die beiden älteren Kinder sind oft eifersüchtig und belächeln sie. Evas Kinder wiederum sind schüchtern, die geflüchteten Burschen sind ihnen fremd. Auch sie hätten gerne ihre Mutter für sich alleine.

Ich weiß nicht genau, wie meine Kinder wirklich über mein Engagement denken. Sie lehnen es nicht ab, aber sie teilen es auch nicht. Unsere heranwachsenden Kinder haben einfach andere Lebenswelten, sagt meine Freundin, die selbst zwei Kinder hat. Sie haben ja alles, was sie brauchen und daher auch oft andere Interessen. Sie hat Recht, denke ich. Jeder Mensch muss seinen Platz und seinen ganz persönlichen Weg in dieser Welt finden und dann entscheiden, was er nehmen und was er geben möchte. Heute ist meine Tochter fast zwanzig. Es erwärmt trotzdem mein Herz, als sie kurzerhand ein Zoom Meeting organisiert, um mit Salim vor seiner Matheschularbeit zu lernen. Manches braucht auch einfach Zeit.

Weil wir uns weiterentwickeln

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18. Dezember – ZUSAMMENHALTEN

Über die Website unseres Vereins erreicht mich eine E-Mail einer unbekannten Frau. Anna lebt in einer anderen Stadt. Sie schreibt, ihr Schützling hätte einen sehr guten Freund, der bei uns in der Nähe wohnt und gerade sehr verzweifelt ist, weil er einen negativen Bescheid erhalten hätte. Ich antworte Anna, und ein paar Tage später erzählt sie mir am Telefon in kurzen Worten die Geschichte von Salim, der im Iran aufgewachsen ist und dem jetzt die Abschiebung nach Afghanistan droht, wo er in seinem Leben noch nie gewesen ist. Zufällig kenne ich Salim, ich habe ein paar Mal mit ihm Deutsch gelernt, es ist schon einige Zeit her. Er ist ein sehr feinfühliger Mensch. Anna sagt, sie würde sich um eine Rechtsberatung kümmern, aber sie könne nicht alles bezahlen. Gemeinsam mit andern legen wir das Geld zusammen. Auch zum Wohnen findet sich eine Lösung. Im Sommer lade ich Anna mit ihrem Schützling zu uns ein. Während die beiden Burschen im Garten plaudern und lachen, unterhalten wir uns in der Küche. Wenn sie nicht gewesen wäre, denke ich.

Weil Menschen zusammenhalten

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17. Dezember – VERBUNDENHEIT

Nach dem Deutschunterricht im Notquartier bin ich immer hundemüde. Ich habe keine Ahnung von Pädagogik, aber es macht mir Spaß, mit verschiedenen Methoden zu experimentieren. Ich bereite mir Kärtchen mit Bildern von verschiedenen Tätigkeiten vor und wir reden darüber, wer welchen Beruf ergreifen möchte. Es ist eine lustige Diskussion, alles ist noch offen, es gibt noch keine abgelehnten Bewerbungsschreiben und schon gar keine abgelehnten Asylansuchen. Erschöpft aber zufrieden packe ich meine Sachen ein. Da kommt Yassir zu mir. Er ist Syrer, steht meist am Rand und beobachtet mehr als dass er richtig mittun würde. So hältst du das nicht lange durch, meint er in flüssigem Englisch. Was? Ich schaue ihn entgeistert an. Wie kommt er dazu mich zu kritisieren, denke ich im ersten Moment, was für ein unangebrachtes Benehmen. Gleichzeitig bin ich neugierig und frage nach, was er damit meint. So kommen wir ins Gespräch. Er war Englischlehrer in Syrien und erklärt mir seine Sichtweise, dass ich mich mit meiner Art zu unterrichten total verausgabe. Es wäre schon toll, meine Energie, mein Elan, aber wenn ich so weitermachte, würde ich vielleicht nicht allzu lange durchhalten, meint er.

Interessant, denke ich mir zu Hause, er fühlte sich gleich mit mir verbunden.

Weil wir voneinander lernen können

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16. Dezember – FILM

Said möchte Filmemacher werden. Er verdient manchmal ein wenig Geld beim Drehen und Schneiden von Filmen. Said hat einen Kurzfilm über den auf der Autobahn abgestellten Kühlwagen gedreht, in dem damals einundsiebzig Menschen starben. Er spielt ausschließlich in diesem Lastwagen. Ich habe ihn gesehen. Zwei Männer beginnen darin kurz vor ihrem Tod einen Streit. Said sagt, er musste diesen Film drehen, weil er sich die Geschichte so gut vorstellen kann. Er ist auch in einem Lastwagen geflüchtet.

Einmal lernt er in Österreich bei einer Gelegenheit einen bekannten Regisseur kennen und zeigt ihm den Film. Der Regisseur meint, er solle doch einen längeren Film daraus machen. Said wünscht sich danach so sehr einen eigenen Computer, um diesen Film zu drehen. Da finanziert ihm eine Bekannte den Computer, er zahlt ihn in Raten zurück. Es fühlte sich so richtig an, sagt sie zu mir. Jetzt arbeitet Said gemeinsam mit anderen in einem Team an dem Film.

Weil es um das eine Menschenleben und nicht um die Statistik geht

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15. Dezember – WERTE

Timo muss einen Wertekurs machen. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erinnere ich ihn daran, er soll sich doch bitte anmelden, der Kurs ist einfach eine notwendige Voraussetzung dafür, dass er hier bleiben darf. Er soll sich von mir aus in den Kurs setzen und sich seinen Teil dabei denken. Jedes Mal wenn ich ihn daran erinnere ist Timo genervt. Was glauben die, fragt er mich, dass ich keine Werte habe? Dass ich von denen lernen muss, wie man sich benimmt? Glauben die, dass alle Syrer denken, dass man einer Frau nicht die Hand geben darf? Die, die das wirklich glauben, werden sich doch nicht in einem Tag ändern! Wir haben auch Werte! Er ist aufgebracht, ich komme kaum zum Argumentieren, was soll ich auch sagen? Sein monatliches Einkommen liegt unter tausend Euro. Bei jedem Bettler den wir sehen, bleibt er stehen und gibt ihm ein Geldstück – er hat es so gelernt.

Weil es unseren Werten entspricht

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14. Dezember – FAMILIE

Rabia ist 23 und hat schon viel erlebt. Sie wurde im Iran verheiratet und hat ein Kind von dem niemand weiß. Nach Österreich ist sie alleine gekommen, über ihre Flucht erzählt sie nicht viel. Ihre Familie ist in der Welt verstreut – da meldet sich eines Tages ihr Bruder. Er ist auf Lesbos gestrandet, sein Kind ist auf der Flucht ertrunken, er wohnt in einem notdürftig gebastelten Zelt und ist völlig verzweifelt. Das Leben im Camp ist entsetzlich. Rabia zögert nicht lange – Familie ist schließlich Familie. Nichts ist für sie jetzt wichtiger, als ihren Bruder zu sehen, mit ihm zu reden, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Sie erzählt alles Gabriele, die sie schon seit längerem betreut. Gemeinsam legen sie und ein paar andere Freundinnen zusammen, damit Rabia zu ihrem Bruder fahren und ihm auch ein wenig Geld für Essen und Trinken geben kann. Alleine macht sie sich auf den Weg, wieder einmal. Nach einer Woche kehrt sie zurück, überglücklich wieder in Österreich zu sein. Sie hat hier keine Eltern und keine Geschwister, aber trotzdem ein Zuhause gefunden.

Weil „wir können nicht alle retten“ nicht bedeutet, dass wir niemanden retten dürfen

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