13. Dezember – ENTSCHEIDUNG

Seit zwei Stunden sitzt Masoud in dem kahlen Raum. Es riecht nach neuem Teppichboden. Der Tisch des Richters ist etwas erhöht ihm gegenüber. Immer wieder richtet er seine schwarze Robe zurecht und fährt sich durchs Haar. Er wirkt ein wenig genervt, manchmal auch traurig. Seit zwei Stunden unaufhörlich Fragen zu Masouds Situation in Afghanistan und seiner Flucht. Masouds Rechtsberaterin überreichte dem Richter am Beginn der Verhandlung ein paar Zettel, es sind Empfehlungsschreiben von verschiedenen Leuten, die bekräftigen, wie gut sich Ali in den letzten Jahren integriert hat. Es steht viel auf dem Spiel: Darf er bleiben – oder wird er abgeschoben. Zwischendurch blättert der Richter immer wieder in den Unterlagen. Bei einem Blatt bleibt er länger hängen. Es ist der handgeschriebene Brief eines Kindes.

Vier Monate später kommt der Bescheid. Der Richter hat entschieden, dass Masoud bleiben darf. Vielleicht hat das Schreiben des Kindes den Richter beeindruckt, denke ich mir.

Weil wir unseren Kindern ein Vorbild sind

#WirHabenPlatz #KaraTepe #MutzurMenschlichkeit

 

12. Dezember – CHANCEN

Mit vierzehn Jahren verdiente Samir in Aleppo Geld mit dem Anrauchen von Shishas. Mit fünfzehn musste er in den Libanon flüchten und bestritt seinen Lebensunterhalt mit dem Verkaufen von Süßigkeiten. Mit achtzehn kam er nach Österreich und machte bei einem Jugendtheaterprojekt am Theater an der Wien mit. Heute ist er dreiundzwanzig und darf auch in dieser Saison im Ensemble im Theater an der Josefstadt mitspielen. Seine nächste Premiere im Jänner ist ein Stück von Elfriede Jelinek. Nein, er spricht noch kein lupenreines Burgtheaterdeutsch und arbeitet konsequent an seinem Ä und Ö. Aber er hat Menschen gefunden, die an ihn glauben.

Weil es Menschen gibt, die andern eine Chance geben 

#WirHabenPlatz #KaraTepe #MutzurMenschlichkeit

11. Dezember – KINDER

2015 arbeitete meine Freundin als Notärztin. Sie kümmerte sich um einen älteren Mann aus Syrien, mit der Rettung fuhren sie ins Spital. Bald ging es ihm besser. Weil er kein Guthaben mehr hatte, borgte sie ihm ihr Handy, damit er seiner Familie Bescheid geben konnte, dass wieder alles in Ordnung war. Ein paar Tage später bekam meine Freundin einen Anruf. Ein fremder Mann war am Apparat. Er erklärte ihr, dass er ihre Nummer über einen Freund bekommen hatte, dem sie vor zwei Tagen geholfen hatte. Seine beiden Söhne wären gerade ziemlich verloren in Traiskirchen, ob sie vielleicht nach ihnen sehen könnte. Meine Freundin nahm Kontakt zu den beiden Buben auf. In Traiskirchen herrschte totales Chaos. Menschen schliefen in notdürftigen Zelten oder im Freien. Meine Freundin holte die beiden ab, unternahm Ausflüge mit ihnen nach Wien. Sie würden so gerne bei einer Familie wohnen, meinte der ältere. Meine Freundin ließ sich von den komplizierten administrativen Voraussetzungen nicht abschrecken und gab den beiden in ihrer Wohnung ein Zuhause.

Heute studiert Amir Pharmazie und Fuad hat letztes Jahr die Matura geschafft. Sie wohnen mit ihrer Familie in Wien.

Weil Kinder ein sicheres Zuhause brauchen

#WirHabenPlatz #KaraTepe

 

10. Dezember – VERLIEBT

Nuri treffe ich fast Tag in der Küche des Notquartiers an. Sie wird zum neuen Zuhause des jungen Afghanen, der fast seine gesamte Familie verloren hat. Mittags wird warmes Essen geliefert, zum Frühstück und zum Abendessen richten Geflüchtete und Freiwillige aus der Umgebung gemeinsam Brot, geschnittenes Gemüse und Aufstriche her. Nuri kennt sich bald besser aus als alle anderen. Souhila das hübsche afghanische Mädchen ist ebenfalls täglich in der Küche. Sie ist Analphabetin und geniert sich ein wenig im Deutschkurs. Nuri möchte ihr beim Gemüseschneiden helfen und nimmt ihr die schweren Platten ab. Souhila gefällt ihm, und ich nehme ihn deswegen ein wenig auf den Arm. Er leugnet es nicht. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er mit einem Mädchen seines Alters unbeschwert scherzen kann. Nuri blüht auf. Und Souhila mit ihm. Hier mitten im Chaos, wo man an einem Tag noch nicht weiß, was der nächste bringen wird.

Weil jeder Mensch ein Recht auf Leben und Lieben hat

#WirHabenPlatz #KaraTepe

9. Dezember – FREIHEIT

Ich lerne Katinka bei einem Kochprojekt kennen. Sie ist Tschetschenin, hat ein feines, hübsches Gesicht, und ich mochte sie von Beginn an. Ihr Mann wurde gefoltert und ist psychisch krank. Katinka ist diejenige, die die Familie zusammenhält. Als das Heim in dem sie wohnten, aufgelöst wird, findet sie mit ihrer Familie eine Wohnung in Wien. Katinka hat ihren Mann nie geliebt, er kümmerte sich nie um die Kinder. Sie findet ihr Leben und auch sich selbst langweilig, sie hat eine Ahnung, dass es da vielleicht noch etwas anderes im Leben geben könnte und überlegt sich scheiden zu lassen. Irgendwie träumt sie von einer romantischen Liebe und einem harmonischen Familienleben – es sind die Träume, die man ihr in ihrem Land als Frau zugestanden hatte. Ich versuche ihr zu erklären, dass sie ein freier Mensch ist, sich frei entscheiden kann, aber ich merke, dass sie damit nicht viel anfangen kann. Sie kennt keine Freiheit. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht gehe ich einmal mit ihr in die Oper, oder ins Theater. Es wird Zeit brauchen, bis sie versteht, was ich meine.

Weil man manches nicht erklären kann, sondern spüren muss

#WirhabenPlatz #MutzurMenschlichkeit

8. Dezember – STRUKTUR

Ein Notquartier ist ein seltsamer Ort. Auf engstem Raum leben hier geflüchtete Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, wahllos zusammengewürfelt, als hätte der Wind des großen Universums sie aus Versehen hierher getragen. Im September 2015 wurde in einem ehemaligen Kloster in unserer Nachbarschaft ein solches Notquartier eingerichtet. Es liegt so nahe, dass ich es von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen kann. Ich bin neugierig, schaue vorbei und möchte mithelfen. Zum Betten überziehen habe ich aber keine Lust, und ich mag auch kein Geschirr abwaschen, viel lieber möchte ich mit den Menschen in Kontakt treten. Ich befestige Packpapier an einer Pinnwand und versuche ein paar Erwachsenen erste Brocken Deutsch beizubringen. Es ist laut, wir haben nur diesen einen großen Raum, Kinder schreien und streiten, manche wollen auf ihrem Handy Musik hören. Da taucht Anja plötzlich auf, eine junge Holländerin, sie schlägt mir vor, dass sie am Vormittag eine Kindergruppe macht, während ich etwas später die Erwachsenen unterrichte. Am nächsten Tag macht sie einen Plan, sortiert Spielzeug und bringt Struktur in den neuen Alltag der Menschen. Die Kinder laufen ihr schon entgegen, wenn sie den Raum betritt.

Weil Menschen immer wieder überraschen

#WirHabenPlatz #MutzurMenschlichkeit #KaraTepe

7. Dezember – WASSER

Eine Freundin ruft mich aus Nickelsdorf an. Ob ich nicht ein paar Leute aufnehmen könnte, nur über Nacht, fragt sie mich am Telefon, hier gäbe es einfach nicht genug Schlafplätze. Es ist schon sehr spät, als ich mit fünf fremden Menschen im Auto nach Hause komme. Irgendwie sehen sie finster aus, auch die Frau. Sie sprechen kein Wort, wollen sofort schlafen gehen und verbreiten einen fast beißenden Geruch im Wohnzimmer.

Am nächsten Tag fragen sie schüchtern, ob sie duschen dürften, und wir geben wir ihnen Handtücher und frische Kleidung. Später, am Vormittag, sitzen wir alle zusammen an unserem großen Tisch beim Essen. Wir haben verschiedene Speisen vom Türken geholt und prosten uns zu. Es sind plötzlich andere Menschen, wie verwandelt. Sie sehen uns offen ins Gesicht, lachen und plaudern in verschiedenen Sprachen. Es ist ein Fest.

Weil Zugang zu sauberem Wasser alles ändert

#WirHabenPlatz #KaraTepe

 

6. Dezember – Helfen

Samir und ich gehen im Wald spazieren. Ich will ihm ein wenig die Umgebung unserer Stadt zeigen. Der Weg ist voller Wurzeln und Steine. Da wird er auf einmal gesprächig, erinnert sich an seine Flucht und beginnt aufgeregt zu erzählen: Dass es genau so ausgesehen hat, und dass sie eine Gruppe von Menschen waren, mitten in der Nacht, im Wald. Er hat keinen gekannt, es waren Männer, Frauen und auch kleine Kinder, denen man oft ein Beruhigungsmittel gegeben hat, damit sie leise sind und schlafen. Ein älterer Mann mit einem kleinen Mädchen war auch dabei. Es ist steil bergauf gegangen. Der alte Mann hat gekeucht, das schlafende Kind war einfach zu schwer für ihn. Da hat Samir ihm geholfen und es getragen. 

Weil wir uns auch in schwierigen Situationen gegenseitig helfen #WirHabenPlatz #KaraTepe

 

5. Dezember – Frauen

Ich stehe müde am Bahnhof Wien Mitte. Es war ein anstrengender Tag. Alle haben mich irgendwie genervt. Da sehe ich Shakila. Irgendwie habe ich überhaupt keine Lust mich mit jemandem zu unterhalten. Aber Shakila hat mich auch schon entdeckt und kommt auf mich zu. Sie strahlt. Ich kenne sie eigentlich nicht besonders gut, aber in jeder whatsapp Nachricht nennt sie mich Süße oder Schatzi. In Afghanistan sollte sie verheiratet werden, hier möchte Sie gerne Biochemie studieren. Auf ihre Frage, wie es mir geht sage ich nur, dass ich müde und ausgelaugt bin. Da packt sie schnell ihren Lippenstift aus und malt mir trotz meiner Proteste die Lippen knallrot an. Weil doch der erste Frühlingstag ist, meint sie lachend!

Weil dich diese Frauen mit ihrer Lebenslust aus deiner Alltagskrise retten #WirHabenPlatz #Moria #MutzurMenschlichkeit

4. Dezember – Schifahren

Farid hatte ich einmal beigebracht, wie man einen Erlagschein ausfüllt. Jetzt treffe ich ihn zufällig wieder in der Wohnung eines Freundes. Ich frage ihn, was er so macht und ob er einen Job hat. Er lacht und zeigt mir Fotos auf seinem Handy: Farid mit einer Gruppe von Jugendlichen beim Kanufahren, Farid beim Bogenschießen, Farid als Kinderbetreuer in einem Feriencamp. Ich nicke anerkennend. Das Beste kommt noch, sagt er und klickt auf ein Video: Farid wie er im Pflug auf Skiern eine Piste hinuntergleitet, dahinter vier Kinder, die ihm nachfahren. Jetzt staune ich wirklich und schmunzle. Irgendwie bin ich auch ein wenig stolz ihn persönlich zu kennen, den ersten afghanischen Schilehrer in Österreich.

Weil Menschen immer wieder überraschen können #WirHabenPlatz #KaraTepe